Klimawandel in der Arktis?


Matthias Prange

University of Bremen, Geoscience Department, P.O. 330 440, D-28334 Bremen, Germany



``Miners have their canaries to warn of looming dangers, and climate change researchers have their arctic ice'', schreibt Richard A. Kerr in der Science-Ausgabe vom 3. Dezember 1999 und führt damit die herausragende Rolle der Arktis für das globale Klima vor Augen. Übereinstimmend zeigen verschiedene numerische Modelle, mit denen die Reaktion des Klimasystems auf eine rasche Zunahme atmosphärischer Treibhausgase untersucht wird, dass sich globale Klimaänderungen in hohen Breiten besonders drastisch auswirken. Das Ozean-Atmosphäre-Meereis-Modell von Washington & Meehl (1996) beispielsweise liefert bei einer globalen Erwärmung durch Verdoppelung der Kohlendioxid-Konzentration innerhalb der nächsten 70 Jahre eine Erhöhung der arktischen Wintertemperaturen von mehr als 10°C, während tropische und subtropische Regionen sich `lediglich' um 2-3°C erwärmen. Die arktische Meereisdecke verschwindet im 2xCO2-Experiment am Ende des Sommers bis auf einen kleinen Rest nördlich der Laptew-See vollständig. Im Winter ist in diesem Szenario das zentrale Nordpolarmeer statt von der heutigen 4 m mächtigen Eisschicht von einer kaum 1 m dünnen Meereisauflage bedeckt.

Arctic Ocean

Die heutige arktische Meereisbedeckung beläuft sich auf rund 15 Millionen km2 während des Wintermaximums (Parkinson & Cavalieri 1989). Die Eisschicht bildet sich im Verlauf des Sommers zurück, so dass sich die eisbedeckte Fläche im Herbst auf die Hälfte reduziert. Die scheinbare Beständigkeit und Unerschütterlichkeit der arktischen Meereislandschaft verleiht ihr einen nahezu kontinentalen Status. Satellitendaten aus den letzten 20 Jahren weisen jedoch auf eine schrumpfende Eisdecke hin. Johannessen et al. (1999) berichten von einer Reduktion der Eisausdehnung von 3% pro Jahrzehnt, wobei für dickes, mehrjähriges Eis ein besonders starker Rückgang zu verzeichnen ist. Zudem zeigen Daten der Eisdicke, die im Rahmen von U-Boot-Fahrten gewonnen wurden, eine Abnahme der mittleren spätsommerlichen Eismächtigkeit von rund 40% während der vergangenen vier Jahrzehnte (Rothrock et al. 1999; s.a. Wadhams & Davis 2000). Richard A. Kerr kommentiert die Befunde mit einem Aperçu: ``The canary is in deep trouble and could expire in a matter of decades''.

Es gibt zahlreiche andere Datenaufzeichnungen aus den letzten Jahrzehnten, die drastische klimatische Veränderungen in der Arktis belegen. Lufttemperaturdaten aus Bodenbeobachtungen deuten auf eine bemerkenswerte Erwärmung während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin. Trends von bis zu 0.7°C pro Jahrzehnt in der Jahresmitteltemperatur sind in Teilen Nordamerikas und Sibiriens zu verzeichnen (Chapman & Walsh 1993; AMAP 1998). Eine Erwärmung scheint aber auch unmittelbar über dem zentralen Nordpolarmeer stattgefunden zu haben. Aufzeichnungen von russischen Nordpol-Drift-Stationen aus dem Zeitraum 1961-1990 wurden von Martin et al. (1997) analysiert. Dabei zeigt sich eine Zunahme der 2-m-Temperaturen von 0.89°C bzw. 0.43°C pro Dekade für die Monate Mai und Juni, aber auch eine signifikante Erwärmung über den gesamten Sommer. Der Temperaturanstieg über den kontinentalen Regionen der Arktis führte offenbar zu einer Erwärmung des Permafrost-Bodens (Serreze et al. 2000). Indigene Bewohner Nordalaskas berichten sogar von einem Auftauen früher gefrorenen Grundes, was zur Freisetzung der Treibhausgase CO2 und CH4 (Methan) führen kann (AMAP 1998). Man bemerkt aber auch Änderungen in den Populationen bestimmter Tierarten und im Pflanzenbewuchs. Zudem wurde eine Verlagerung der Baumgrenze nach Norden festgestellt (Serreze et al. 2000). Aufzeichnungen der Schneebedeckung in der nordamerikanischen Tundra (Foster 1989) sowie der Eisbedeckung in Seen und Flüssen in hohen Breiten (Magnuson et al. 2000) lassen auf einen Trend zu kürzeren Wintern schließen. So zeigt beispielsweise die Analyse der von 1876-1978 laufenden Zeitreihe für den Mackenzie, dass das winterliche Zufrieren des Flusses immer später geschieht. Dabei liegt der Trend bei 6.1 Tagen in 100 Jahren. Ferner haben Niederschläge während des letzten Jahrhunderts in hohen Breiten um bis zu 15% zugenommen (AMAP 1998). Der stärkste Anstieg ist dabei in den Winterdaten der letzten 40 Jahre zu verzeichnen.

Die hier zusammengefassten Befunde machen deutlich, dass die arktische Umwelt Veränderungen erlebt. Würde man alle Trends schlicht in die Zukunft extrapolieren, so käme man schnell zu dem Schluss, dass bereits in wenigen Jahrzehnten die polare Region, so wie wir sie heute kennen, nicht mehr existieren würde. Insbesondere wäre bei gleich bleibendem Trend im Meereisrückgang das Nordpolarmeer am Ende des 21. Jahrhunderts während der Sommermonate eisfrei (Smedsrud & Furevik 2000). Die Folgen für die arktische Tier- und Pflanzenwelt wären verheerend (z.B. Tynan & DeMaster 1997; Stirling & Derocher 1993).

Solche Zukunftsvisionen liegen nahe, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die beobachteten Veränderungen bereits das Resultat einer anthropogen Klimaveränderung sind, die durch eine kontinuierliche Zufuhr von Treibhausgasen in die Atmosphäre bedingt ist. Doch ebenso gelten natürliche Klimaschwankungen als Kandidat, um die Umweltveränderungen in der Arktis zu erklären. Das Klimasystem mit seiner Vielzahl von Rückkopplungsmechanismen innerhalb und zwischen seinen verschiedenen Komponenten (Atmosphäre, Hydrosphäre, Kryosphäre, Biosphäre, Lithosphäre) zeigt per se Variabilität in äußerst komplexer Form auf allen Zeitskalen. Hinzu kommen Schwankungen im solaren Antrieb (Shindell et al. 1999a). Das wichtigste Muster der Klimavariabilität auf dekadischer und multidekadischer Zeitskala für den arktischen und subarktischen Raum ist die Arktische Oszillation (AO). Eine räumlich begrenzte `Teilmenge' der AO ist die Nordatlantische Oszillation (NAO). AO und NAO sind stark korreliert. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten befindet sich die NAO bzw. AO in einem Extremzustand mit fast durchgehend positivem Index. Aufgrund der Korrelationen zwischen der NAO und zahlreichen meteorologischen und ozeanografischen Größen gilt es als wahrscheinlich, dass diese Extremphase mit den beobachteten Umweltveränderungen in der Arktis-Region verbunden ist. Im Hinblick auf die Entwicklung der Meereisdecke wäre daher folgendes Szenario denkbar:

Bei positivem NAO- bzw. AO-Index wird über Winde und Meeresströmungen mehr Wärme in die Nordmeer-Region gepumpt. Im arktischen Ozean wird der Hauptteil dieser Wärme in Tiefen unterhalb 200 m, in der Atlantischen Schicht, gespeichert. Durch eine geeignete vertikale Struktur der Halokline mit einem isothermen Bereich zwischen ca. 50-150 m, der CHL (Cold Halocline Layer), wird diese Wärme über weite Bereiche des arktischen Ozeans ganzjährig von der Oberfläche - und somit vom Eis - abgeschirmt (Aagaard et al. 1981; Steele & Boyd 1998). Eine veränderte ozeanische Zirkulation im Zusammenhang mit der NAO- bzw. AO-Extremphase beeinträchtigt jedoch die Bildung und Aufrechterhaltung der Halokline, so dass sich vermehrt warmes Wasser in die oberflächennahen Schichten mischen kann. Die erhöhten Wärmeflüsse aus dem Ozean und der Atmosphäre verursachen somit den beobachteten Rückgang der Eisbedeckung. Sobald sich die NAO bzw. AO wieder `einpendelt' und schließlich längerfristig in eine negative Phase gerät, werden sich die meteorologischen und ozeanografischen Verhältnisse umkehren - die Meereisdecke kann sich wieder erholen.

Arctic Ocean Circulation

Tatsächlich finden Maslanik et al. (1996) und Deser et al. (2000) Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der atmosphärischen Zirkulation und der Verringerung der arktischen Meereisbedeckung. Aber auch Änderungen in der ozeanischen Zirkulation wurden beobachtet, die mit einer Erwärmung des Nordpolarmeeres einhergehen und im Einklang mit der positiven Phase der NAO bzw. AO während der vergangenen zwei Jahrzehnte stehen. Zahlreiche Messdaten deuten darauf hin, dass sich in diesem Zeitraum der Bereich warmen atlantischen Wassers im Nordpolarmeer deutlich ausgedehnt hat; zudem wurde eine Erhöhung der Temperatur dieser Wassermasse festgestellt (z.B. McLaughlin et al. 1996; Morison et al. 1998; Grotefendt et al. 1998). Hierfür scheinen sowohl eine verstärkte Zufuhr von Atlantik-Wasser durch die Fram-Straße und über die Barents-See als auch eine Zunahme der Einstromtemperatur verantwortlich zu sein (Swift et al. 1997; Zhang et al. 1998; Dickson et al. 2000). Steele & Boyd (1998) berichten vom Verschwinden der CHL im Eurasischen Becken (Nansen-Becken + Amundsen-Becken) in den frühen 90er Jahren, was dazu führt, dass mehr Wärme aus der Atlantischen Schicht an die Oberfläche gemischt werden kann und so die Wärmeflüsse ins Eis beträchtlich erhöht werden. Dieser Vorgang scheint aus einem eher zyklonalen Muster der Oberflächen-Zirkulation zu resultieren (vgl. Proshutinsky & Johnson 1997), das den Transport salzarmen Schelf- bzw. Flusswassers aus der Laptew- und Kara-See ins Eurasische Becken verhindert; stattdessen wird das Flusswasser ins Makarow-Becken geleitet. Die Zufuhr der Schelfwassermassen ist jedoch essenziell für die Aufrechterhaltung der CHL (Rudels et al. 1996; Steele & Boyd 1998).

Das arktische Packeis scheint während der AO-Extremphase also eine erhöhte Wärmezufuhr von unten und oben empfangen zu haben, was zu einer außergewöhnlichen Schmelze innerhalb des Nordpolarmeeres geführt haben könnte. Eindeutige Hinweise für einen Trend im Meereisexport durch die Fram-Straße gibt es indes nicht (Hilmer et al. 1998).

Sind die beobachteten Klimaveränderungen also lediglich eine kurzfristige `Laune der Natur' oder hat der Mensch durch sein ungestümes Handeln einen schwerwiegenden Eingriff in die Dynamik eines Systems vorgenommen, das zu begreifen er bislang nur ansatzweise in der Lage ist? Jüngste Klimamodellstudien deuten darauf hin, dass der anthropogene Ausstoß von Treibhausgasen nicht nur für den dramatischen Rückgang des arktischen Meereisvolumens verantwortlich ist (Vinnikov et al. 1999), sondern auch für den beobachteten positiven Trend in der AO (Shindell et al. 1999b; Fyfe et al. 1999). Eine anthropogene Klimaveränderung scheint sich demnach über ein natürlich auftretendes Muster atmosphärischer Variabilität zu manifestieren. Natürliche Klimaschwankungen und anthropogene Klimatrends dürfen folglich nicht als entkoppelte Phänomene aufgefasst werden. Es ist zu erwarten, dass die AO in Zukunft positive Zustände bevorzugt einnehmen wird (Fyfe et al. 1999). Ein Anwachsen des Meereisvolumens hin zu früheren Werten ist dann sehr unwahrscheinlich.



Referenzen


Weitere Informationen:


The National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA): Arctic theme page
The National Snow and Ice Data Center (NSIDC): Climate Change and the Arctic
Center for Global Change: Arctic climate impact assessment
Greenpeace: Arctic action



20. Dez. 2001